„Rotwein muss atmen, damit er seine ganze Klasse entfaltet!“ Diesen Satz habe ich schon hunderte Mal gehört, aber er wird dadurch nicht richtiger. Nichts hält sich länger als ein Vorurteil. Auch in der Weinwelt ist das so. Und auch die gehobene Gastronomie pflegt dieses Vorurteil, zumindest wenn sie einen Wein allein in der Absicht belüftet, um die Wertigkeit der Location und des ausgeschenkten Produkts zu unterstreichen. Aber was geschieht denn da nun eigentlich genau?
Es gibt genau zwei klassische Gründe, einen Wein vor dem Trinkgenuss in eine Karaffe oder einen Dekanter umzufüllen. Als Karaffieren bezeichnen wir das Umfüllen eines Weins in eine Karaffe zum Zwecke der Belüftung und des Sauerstoffkontakts. Allerdings profitieren die aller wenigsten Weine vom Sauerstoffkontakt. Nur wenige, nämlich im wesentlichen die entwicklungsbedürftigen Rotweine, die Du vor ihrer eigentlichen Trinkreife öffnest, gewinnen durch den Kontakt mit Sauerstoff. Füllst Du diese in eine breitbauchige Karaffe, die ihnen einen intensiven Sauerstoffkontakt beschert, können sie in einem relativ kurzen Zeitabschnitt einen Entwicklungsprozess durchlaufen, für den sie normalerweise eine viel längere Reifezeit in der Flasche benötigt hätten. Oft genügen ein bis zwei Stunden, damit der Wein seine Verschlossenheit überwindet und duftigen Charme entfaltet. Wie eine Blume, die sich frühmorgens mit den ersten Sonnenstrahlen und der Wärme des beginnenden Tages allmählich öffnet und uns ihre ganze Schönheit zeigt, so legt der belüftete Wein von Minute zu Minute an aromatischer Strahlkraft zu.
Die Verwandlung am Gaumen ist nicht minder beeindruckend: Rustikalität und Adstringenz machen einer geschmeidigen Rundheit Platz und seine Berührungen an unserem Gaumen gewinnen an Zartheit und Eleganz. Die Zeit im Karaffiergefäß ist abhängig von der Verschlossenheit des Weines und kann im Extremfall bis zu 24 Stunden betragen. Wenn Du Zeit hast, solltest Du Dir einmal den Spaß machen, die Entwicklung des Weins über einige Stunden durch regelmäßiges Probieren zu beobachten. Du wirst erstaunt sein, wie viel ein wenig Sauerstoff bewirken kann. Auch einige Weißweine, insbesondere wenn sie in kleinen, neuen Eichenfässern (Barrique) vergoren und gelagert wurden, können durch Belüftung an Ausdruckskraft gewinnen. Völlig ohne Effekte und deshalb unsinnig ist dagegen die Praxis, einen Wein einige Stunden vor dem Trinkgenuss einfach nur zu öffnen. Die Sauerstoffmenge, die es schafft, durch den engen Flaschenhals Kontakt zum Wein zu bekommen, ist viel zu gering, als dass dadurch irgendein nennenswerter Belüftungseffekt erzielt wird.
Es gibt einen weiteren Grund, Rotweine in eine Karaffe umzufüllen. Dann nämlich, wenn sie mit zunehmender Flaschenlagerung ein Depot (Bodensatz) gebildet haben. In diesem Fall spricht man von Dekantieren und meint damit das Trennen des Weines von überflüssigen Trubstoffen. Vor allem farb- und tanninintensive Vertreter neigen zur Depotbildung. Beide Inhaltsstoffe sind im Rotwein nicht stabil, sondern interagieren chemisch miteinander. Mit der Zeit bilden sie immer größere Moleküle, die irgendwann so groß werden, dass sie nicht mehr im Wein gelöst sein können, sondern als Feststoffe ausgeschieden werden. Diese Teilchen stören den Weingenuss mit bitterem Geschmack und sandiger Struktur. Deshalb solltest Du den Wein durch vorsichtiges Umfüllen in eine Karaffe von seinem Depot trennen. Dabei kann Dir eine Kerze oder Lampe als Lichtquelle dienen, die den dunklen Flaschenhals durchleuchtet. Im Lichtschein siehst Du das Depot als schwarzen Strich in der Flasche. Du kannst den Dekantiervorgang rechtzeitig abbrechen, bevor die Sedimente in die Karaffe fließen. Nicht zu verwechseln ist das Depot mit Weinstein, der durch Verbindungen von Säuren mit Kalium (Kaliumhydrogentartrat) oder Kalzium (Calciumtartrat) entsteht.
Neben den klassischen großen Rotweinen wie Bordeaux und Brunello di Montalcino profitieren vor allem alte Portweine und Madeiras vom Dekantieren. Auch der Sauerstoffkontakt des Weines spielt dabei eine Rolle: Alte Weine können dadurch manchmal aufgefrischt werden. Dieser Effekt kann sich jedoch nach kurzer Zeit fatal ins Gegenteil verkehren, denn Sauerstoff ist der größte Feind des gereiften Weins. Deshalb solltest Du beim Dekantieren alter Weine die so genannte »Entenkaraffe« verwenden, die durch ihre Form nur wenig Sauerstoffkontakt zulässt. Danach ist zügiges Austrinken angesagt.
Lass es Dir schmecken!
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